Ein Gespräch zwischen Carole Bolliger, Epi Suisse (Schweizerische Patientenorganisation für Epilepsie), und Sara Satir, Coach, Kolumnistin und Mutter. Abgedruckt mit Genehmigung von Epi Suisse.
Sara Satir, Coach und Mutter eines epilepsiekranken Kindes, über Schuld und ein schuldfreies Leben
Ein Gespräch zwischen Carole Bolliger, Epi Suisse (Schweizerische Patientenorganisation für Epilepsie), und Sara Satir, Coach, Kolumnistin und Mutter. Abgedruckt mit Genehmigung von Epi Suisse.
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Sara Satir: Bei mir in der Praxis erlebe ich viele Eltern von kranken oder beeinträchtigten Kindern, die von Schuldgefühlen geplagt werden. Dazu können verschiedene Faktoren führen: zum Beispiel, wenn es sich um eine Erbkrankheit handelt, an der das Kind erkrankt ist. Die Eltern fragen sich, ob sie etwas weitergegeben haben. Viele Mütter fragen sich, ob sie während der Schwangerschaft etwas falsch gemacht haben. Das sind aber immer irrationale Schuldgefühle, die medizinisch nicht auf Fakten beruhen. Trotzdem haben sehr viele Eltern von betroffenen Kindern damit zu kämpfen.
Auch von vielen Eltern höre ich oft die Frage, ob sie genug für ihr Kind machen. Könnte man in der Begleitung etwas anders machen? Braucht mein Kind mehr oder weniger Therapien? Auch Eltern mit gesunden Kindern kennen diese Fragen und Sorgen. Aber bei kranken oder beeinträchtigten Kindern erhöhen sich die Schuldgefühle klar. Spezifisch bei Kindern, die von Epilepsie betroffen sind, fragen sich die Eltern häufig, hätte man den Anfall verhindern können oder was haben sie falsch gemacht, dass der Anfall überhaupt ausgelöst wurde?
Andererseits gibt es aber auch Eltern, die keine Schuldgefühle haben, und die sind nicht „komisch“ oder „abnormal“.
Sehr wichtig ist, dass man nicht immer nur die Erkrankung oder Beeinträchtigung des Kindes sieht, sondern sich auch darauf konzentriert, was das Kind alles kann und was man mit ihm Schönes erlebt. Diese Glücksmomente festzuhalten, kann in schwereren Zeiten sehr stärkend sein. Es fördert die Resilienz. Wichtig ist auch, dass man sich Hilfe holt und diese annimmt. Ein Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen“. Bei einem kranken oder beeinträchtigten Kind braucht es ein noch grösseres Dorf.
Abgesehen von dem bereits Gesagten kann es eine grosse Herausforderung sein, den Spagat zwischen den Bedürfnissen des betroffenen Kindes, den Bedürfnissen der Geschwister und den eigenen Bedürfnissen zu finden. Häufig haben Eltern auch Schuldgefühle den Geschwistern des betroffenen Kindes gegenüber. Man sollte die Probleme offen und ehrlich ansprechen, nichts beschönigen und bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Ich empfehle, sich mit anderen Eltern von betroffenen Kindern zu vernetzen. Das nimmt das Gefühl vom Alleinsein. Wenn mal Schuldgefühle alleine trägt, verstärken sie sich. Im Coaching oder in der Therapie darüber reden. Sich nicht schämen oder denken, man sei komisch, dass man diese Gefühle hat. Es gibt auch viele gute Bücher zu dieser Thematik. Ich versuche, meinen Klientinnen und Klienten Mut zu machen, darüber zu reden. Für viele ist es immer noch ein Tabuthema. Auch mit Ärzten sollte man darüber reden. Diese machen manchmal unbedachte Aussagen, welche die Schuldgefühle verstärken. Da sollte man klar hinstehen und die Schuld von sich weisen. Es ist höchste Zeit, dass wir den Ball voller Schuldgefühle zurückwerfen. Denn als Eltern von kranken oder beeinträchtigen Kindern trägt man sonst schon genug.
Es gibt keine Patentlösung dafür. Wichtig finde ich, dass sich die Eltern bewusst sind, dass alle Eltern hin und wieder mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben. Sowohl solche von kranken, als auch von gesunden Kindern. Man sollte den Eltern vermitteln, dass das, was sie machen, genügt. Denn Eltern handeln in bester Absicht mit allen Ressourcen, die sie haben. Und das ist genügend.
Ein Kind gross zu ziehen ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Nur, wer sich selber Sorge trägt, kann den langen, harten und teils steinigen Marathon meistern. Eltern sollten kein schlechtes Gewissen haben, das Kind mal abzugeben, um Zeit für sich zu haben. Wenn man sich selber gut schaut, kann man auch für sein Kind längerfristig gut sorgen. Selbstfürsorge ist deshalb immer auch Sorge für das Kind.
Angehörige, Familien, Freunde, Verwandte sollten sich bewusst sein, dass man mit unbedachten Aussagen die Schuldgefühle der betroffenen Eltern noch mehr verstärken kann. Die Verunsicherung ist eh schon gross. Wenn man nicht weiss, was man sagen soll, kann man am besten einfach seine Unterstützung anbieten. Auf unbedachte Aussagen wie „da hättet ihr halt konsequenter sein sollen“ oder «ich würde unbedingt noch Therapie xy ausprobieren» solle man verzichten. Man muss sich bewusst sein, dass es wirklich schon mehr als genug ist, was die Eltern tragen müssen.
Schuldgefühle gehören zur biologischen Ausstattung. Jeder Mensch kann sie haben. Aber nicht bei allen ist es gleich. Es gibt nicht DAS Schuldgefühl. Ich habe auch schon mit Menschen mit Epilepsie gearbeitet, die Schuldgefühle haben und denen es unangenehm ist, wenn es nur um sie geht. Niemand trägt Schuld, das finde ich wichtig. Nicht der, der krank ist und auch nicht der, der gesund ist. Wir alle gehören zur Gesellschaft – genauso wie wir sind. Und jeder hat das Recht auf Teilhabe.
Ja und das macht mich wütend, dass die Gesellschaft so exkludierend ist. Wir leben leider in einer genormten Welt. Wenn ein Mensch diese Norm verlässt, muss automatisch jemand schuld sein. Mit dieser Person stimmt ja etwas nicht. Es ist utopisch, aber mein Wunsch ist, dass einfach jeder dazugehört. Dann würde sich auch die Schuldthematik zu einem grossen Teil auflösen. Die betroffenen Personen und Familien bekämen die Hilfe und Unterstützung, die sie brauchen. Ohne gross dafür kämpfen zu müssen.
Wir brauchen mehr offene Kommunikation, mehr Sensibilisierungskampagnen für unsichtbare Hürden. Das ist unter anderem auch die Aufgabe von Organisationen wie Epi-Suisse. Je mehr Sichtbarkeit, desto kleiner die Hürden, die der Inklusion im Weg stehen. Das ist natürlich ein grosses Politikum. Wir in der Schweiz stehen noch ganz am Anfang, aber die Inklusionsinitiative, die im Oktober lanciert wird, stellt sicherlich einen guten und wichtigen Anstoss dar.